Von der Klinik aufs Schiffsdeck

Gleiche Aufstiegschancen

Bei hochsommerlichem Wetter warten reichlich Touristen mit und ohne Fahrrad auf das Schiff um 14.47 Uhr nach Lindau. Es herrscht Grossandrang im Hafen von Rorschach. Die MS Zürich fährt ein. Selbstbewusst steht die Matrosin Aline Berlinger an der Reling der «Zürich» und wartet, bis das Schiff unmittelbar am Landungssteg angelegt hat, um gleich darauf das Drahtseil Hafenmeister Urs Grob zuzuwerfen und das Schiff anschließend an der Anlegestelle zu befestigen. Und schon strömen die Fahrgäste hinein. Mit einem freundlichen Lächeln begrüßt sie die Gäste, fühlt sich in ihrem Element und freut sich ob der zufriedenen Stimmung. Mit großer Selbstverständlichkeit und Freude verrichtet sie die Arbeit, die ihr vor vier Monaten bei der Einstellung übertragen wurde. 

Lohnender Blick ins Internet

Für die Pflegefachfrau ist es wohl keine selbstverständliche Betätigung. Während acht Jahren arbeitete Aline Berlinger in der Psychiatrieabteilung in Münsterlingen. Der Gang aufs Wasser war ein lange gereifter Entscheid. «Ich wollte dem Beruf in der Klinik so lange treu bleiben, als ich die Arbeit gut erfüllen kann. Eine wachsende innere Unzufriedenheit und eine stete Müdigkeit abends nach getaner Arbeit ließ den Entschluss reifen, ein anderes Arbeitsumfeld zu suchen», erklärt die 25-Jährige. Sie wollte dort arbeiten, wo Menschen Freude haben und gerne hinkommen. Sie bezeichnet sich als Suchende, um so mehr, als sie den Pflegeberuf noch immer etwas vermisst. Aber der Drang, einmal im Tourismus zu arbeiten und das auch noch auf dem Wasser, ließ sie die Stellenangebote der Schweizerischen Bodensee Schifffahrt im Internet studieren. Sie wollte von der sehr «kopflastigen» Arbeit in der Klinik weg. Der Wunsch, auf dem Schiff zu arbeiten, hängt für Aline Berlinger auch damit zusammen, dass ihr Hobby Segeln ist und sie seit ihrer Jugend mit dem See verbunden ist.

Mit Mütze und Achselpatten

Heute arbeitet die Steinacherin mit drei weiteren Matrosinnen und zahlreichen Männern gemeinsam auf den Schiffen. Körperlich wurde tatsächlich etwas gefordert, wie sie rückblickend feststellt. «Ich wusste, worauf ich mich einließ, als ich mich auf dieses Inserat meldete. Und die Muskeln, die anfangs noch nicht vorhanden waren, bildeten sich später nach und nach», sagt sie. Doch für sie stimmt bei der «weißen Flotte» alles, sie könne anpacken, dazu lernen und für Technik interessiere sie sich auch. Speziell war für Aline Berlinger anfangs das Tragen der Uniform, damit spielte sie eine neue Rolle in einer anderen Welt, es waren Tage des Angewöhnens. Doch die gute Aufnahme durch die Kollegen und die ihr mit viel Geduld beigebrachten neuen Handgriffe erleichterten den Einstieg in den neuen Job auf dem Schiff.

Sie genießt es, Abstand zum bisherigen Alltag zu nehmen, die Welt vom See aus zu betrachten und so nach neuen Horizonten Ausschau halten zu können. Wochenendarbeiten und Nachteinsätze sind ihr geläufig vom früheren Beruf her. Sie fühlt sich wohl auf dem See und auch wohl in ihrem Aufgabenbereich. Doch was die Zukunft anbelangt, ist für Aline Berlinger noch nichts entschieden. Der Gedanke an einen Beruf im sozialen Bereich ist ihr noch immer nahe.

Tapetenwechsel ist gelungen

Fast ein wenig sinnierend und doch bestimmt zählt sie die einzelnen Dienstgrade auf: «Matrose, Kassier, Maschinist…», sie hält einen Moment inne und fährt fort: «…und nachher kann man Schiffsführer werden.» Es bleibe dahingestellt, wie nahe Aline Berlinger dieser Gedanke ist. «Mit der Arbeit auf dem Schiff habe ich mein Ziel erreicht, der Tapetenwechsel ist mir gelungen», ist ihre vorläufige Bilanz. Wo sie im Winter arbeitet, weiß sie noch nicht, ebenso wenig im kommenden Sommer. Das steht für sie noch in den Sternen geschrieben – oder eben im Wasser.

Erich Hefti Oberkapitän

Es ist abwegig anzunehmen, dass sich Frauen für die Arbeit einer Matrosin nicht eignen sollten. Gerade sie können ihre Talente mit einem kundenorientierten Einsatz sehr gut einbringen. Und die Aufstiegsmöglichkeiten sind für Männer und Frauen gleichermaßen vorhanden. Wir haben einerseits ein Stammpersonal und anderseits auch Mitarbeitende, die nur während der Saison bei uns arbeiten. Natürlich versuchen wir, saisonale Angestellte mit guten Qualifikationen ins Stammpersonal zu integrieren.

(St. Galler Tagblatt v. 27.08.11)

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