So versank die alte Herrlichkeit

  Nirgendwo sinken die Tage und Nächte schneller hinab
In die Vergangenheit als auf See
Sie scheinen wie die Perlen des Kielwassers zurückzubleiben
Auf dem sich das Schiff auf zauberhafte Weise fortbewegt!
Joseph Conrad „Spiegel der See“

Erinnerungen von Schiffshistoriker Karl F. Fritz

Teil 7

Zwei Wochen nach dieser Fahrt wurde mir das unmittelbar bevorstehende Ende des Dampfzeitalters zum ersten Mal richtig bewusst. In der letzten Ferienwoche weilten wir noch zu Besuch bei einer Tante in Kellmünz bei Illertissen. Auf der Hinreise fuhren wir mit der „Baden“ nach Friedrichshafen und dann ab Hauptbahnhof mit einem Eilzug nach Ulm, der mit einer Dampflokomotive der Baureihe 01 bespannt war. An den Typ der Dampflokomotive des Anschlusszuges in Richtung Kellmünz-Memmingen kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Beim Aufenthalt auf dem Hof der Tante sah ich zum ersten Mal die Allgäuer- und Vorarlberger Alpen aus einer anderen, mir bis dahin völlig unbekannten Perspektive. Die Rückfahrt führte zwei Tage später über Memmingen nach Lindau. Durch das Abteilfenster kamen schon die Türme der Inselstadt in Sicht, als uns der Schnellzug nach München mit zwei in Doppeltraktion vorgespannten Dampflokomotiven der legendären Baureihe 18, der ehemals königlichen S 3/6 begegnete. In Lindau angekommen, verließ gerade die „Stuttgart“ den Hafen in Richtung Bregenz. Wir fuhren kurze Zeit später mit der „Schwaben“ heimwärts. Schon bei unserem Aufenthalt in Kellmünz hatte das Wetter umgeschlagen und es war kühl und regnerisch geworden. In Höhe Nonnenhorn kam uns die „Austria“ entgegen und kurz vor Friedrichshafen die „Stadt Bregenz“.

Bei der Ankunft in Konstanz lag die „Stadt Überlingen“ schon an der Werftmole, ein untrügliches Zeichen, dass der Sommer zu Ende ging. Im September wurde der große Dampfer nur noch über die Wochenenden gebraucht. Neben der „Stadt Überlingen“ ragten die Kamine der „Stadt Meersburg“, der „Zähringen“ und der schon erheblich vom Rost gezeichnete Schlot der „München“ auf. Ein Konstanzer Kaufmann hatte den 1958 ausgemusterten Dampfer erworben und wollte ihn zur schwimmenden Gaststätte umbauen lassen. Eine Genehmigung des Konstanzer Gemeinderates war bislang ausgeblieben und damit auch das weitere Schicksal des ehemaligen Lindauer Dampfers ungewiss.

Als passionierten Gärtner zog es meinen Vater mehrmals im Jahr auf die Insel Mainau. So auch am 11. September 1960, zur Zeit der Dahlienblüte. Die Blumeninsel am Eingang des Überlingersees war damals schon die Touristenattraktion ersten Ranges am See, aber gemessen an der heutigen Zeit noch wesentlich beschaulicher. Da gab es ein kleines Gartenrestaurant vor dem Lauenhaus und ich erinnere mich noch an eine hübsche, freundliche Bedienung im Dirndlkleid mit schwarzem, lockigen Haar und großen blauen Augen, die uns kannte, und deshalb wurden wir immer zuvorkommend bedient. Vater trank sein „Viertele“, Mama ihren Kaffe und ich mein Sinalco. Als wir am frühen Nachmittag zum Hafen spazierten, sah ich von der Rheinbrücke aus die festlich  beflaggte „Stadt Meersburg“ einlaufen. Zunächst dachte ich an eine Sonderfahrt, als wir aber dann am Abend mit dem vollbesetzten Dampfer nach Konstanz zurückfuhren, teilte uns der Matrose Hans Sterk mit, dass dies heute die letzte Fahrt gewesen sei, daher die Flaggengala. Nun war auch für mich das längst begonnene, große Dampfersterben zur Gewissheit geworden. Aber noch gab es ja die „Stadt Überlingen“, die „Stadt Bregenz“, die „Hohentwiel“, den „Rhein“ und die „Schaffhausen“, an die sich nun meine kindlichen Hoffnungen zu klammern begannen.

Stellvertretend für seine Kollegen schrieb Oberheizer Alfred Schwarz mit Kreide einen Abschiedsvers an die Schutzbretter der Kesselfront:

Seid nicht traurig, wenn ich scheide -
von dem schönen Bodensee -
gerne denk ich an die Zeiten
Die ich jahrelang mit euch erlebt.
Tränen könnt ich weinen
heut auf meiner letzten Fahrt.
Helfen aber kann mir keiner,
denn für mich wird’s nie mehr Tag.

Einige Tage später berichtete mein Vater nach seiner Rückkehr aus der Stadt, er habe am Landungsplatz 7 die „Hohentwiel“ dampfen gesehen. Ein „Häfler“ fest in Konstanz stationiert, dachte ich mir, das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Überall entstanden Veränderungen und die gesamte Flottenstruktur schien aus meiner Sicht durcheinander zu geraten. Die „Hohentwiel“ war als vorübergehender Ersatz für die „Stadt Meersburg“ nach Konstanz verlegt und nach Indienststellung der „Stuttgart“ in Friedrichshafen entbehrlich geworden.

Im Jahre 1963 hatte ich mein 12. Lebensjahr vollendet und durfte nun, sofern es mein Taschengeld-Bestand erlaubte, „selbständig“ und ohne Begleitung eine Schiffsfahrt unternehmen. „Zähringen“ und „Stadt Meersburg“ waren längst verschrottet, die „Hohentwiel“ an den Bregenzer Segelclub verkauft worden. Neues Flaggschiff der Konstanzer Flotte war seit 1962 die „München“. Gleichzeitig war 1963 auch das letzte Jahr, wo sich die beiden großen Salondampfer „Stadt Überlingen“ und „Stadt Bregenz“  noch gemeinsam im Dienst befanden. Beide Schiffe blieben meine Favoriten und nur, wenn keine andere Möglichkeit bestand, fuhr ich mit einem Motorschiff. Es war auch das Jahr, wo die ersten, engeren Kontakte mit mehreren Besatzungsmitgliedern zustande kamen. Das waren auf der „Stadt Überlingen“ die Matrosen Hans Sterk, Heinz Maier, Walter Nolte und Kassier Walter Frank, ein Onkel des heutigen Konstanzer Oberbürgermeisters.

Die Maschine der „Stadt Überlingen“ wurde im letzten Betriebsjahr abwechselnd von Josef Koch und Oskar Reichle betreut. Den Dienst vor den Kesseln versahen wie gewohnt Gottfried Danegger, Alfred Schwarz und Karl Schmid. Irgendwann ermunterte mich Karl Schmid, in den Maschinenraum zu kommen. Das war durchaus nicht selbstverständlich, denn auch interessierte und privilegierte Fahrgäste benötigen normalerweise eine amtliche Genehmigung. Deshalb betrachtete ich diese Einladung als eine große Ehre. Staunend durfte ich nun zum ersten Mal die mächtigen Kurbeln, Treibstangen und Kreuzköpfe aus nächster Nähe begutachten. Hinter einer meistens geöffneten Schotttüre lag der Kesselraum Von nun an durfte ich und sooft ich wollte, die „Katakomben“ der „Stadt Überlingen“ aufsuchen. Die Heizer zeigten mir, wie man Kohlen richtig auflegt und die Schlacken entsorgt. Das unmittelbar bevorstehende Ende dieses wunderbaren Schiffes wollte und konnte ich einfach nicht wahrhaben.

Der offizielle Abschied kam am 15. September 1963. Die letzte Fahrt des erst 34 Jahre alten Dampfers führte nach Überlingen und ich war dabei. An Bord des vollbesetzten Schiffes herrschte Volksfeststimmung, doch wollte in mir und vermutlich auch bei anderen Teilnehmern keine echte Freude aufkommen. Zum letzten Mal vernahm ich das vertraute Geräusch der singenden Ventile, der auf- und niederwuchtenden Antriebskurbeln und das Rauschen der Schaufelräder.

Assistiert von Kapitän Karl Welte und Steuermann Rudi Mägerle, führte die stattliche Erscheinung von Oberkapitän Walter Schöller zum letzten Mal das Kommando. Wegen der großen Nachfrage an Ansichtskarten und Souvenierartikeln war die Kasse mit zwei Mann, Stammkassier „Gustl“ Keller und Werner Brunner besetzt. Zum Decksdienst waren die Matrosen Walter Nolte, Jakob Schall und Hubert Bossart eingeteilt. Die Überlinger bereiteten dem Schiff einen überwältigenden Empfang. Es spielte die Stadtmusik und in seiner Abschiedsrede äußerte Bürgermeister Schelle den Wunsch, das Ersatzschiff möge wieder den Namen „Überlingen“ tragen.

Der Abschied vom Dampfzeitalter wurde von vielen Seeanwohnern wehmütig hingenommen. Aber die betriebswirtschaftlichen Aspekte beim Vergleich eines Dampfschiffes gegenüber einem Motorschiff ließen sich damals nicht durch nostalgisch verklärte Gegenargumente entkräften. Auch der brillant verfasste Aufruf des Konstanzer Journalisten Werner Häusler, die „Stadt Überlingen“ als technisches Denkmal über die Zeiten zu retten, brachte nicht die erhoffte Resonanz.

Das Ende der „Stadt Überlingen“ kam für mich gleichbedeutend mit dem Abschied von einer unbeschwerten Kindheit. Im Hochsommer 1964 war die „Stadt Bregenz“ zwar noch im Liniendienst anzutreffen, doch warf das auf der Fußacher Helling entstehende Neubau-Motorschiff bereits seine Schatten voraus. Damit war auch das Schicksal dieses prächtigen Salondampfers über kurz oder lang so gut wie besiegelt. Die „Stadt Bregenz“ war das letzte, kursmäßig verkehrende Dampfschiff auf der Obersee-Längsroute….

(Karl F. Fritz)  

Fortsetzung folgt...

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